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36 Jahre Konkret CD

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Heft 09 2011

Michael Schilling

Der Mob und das Recht

Einerseits ist die Bundesrepublik ein Rechtsstaat, dessen Verfassung mit den Sätzen beginnt: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.«

Andererseits ist die Bundesrepublik im festen Griff einer Spezies, der dieses höchste Gebot des sogenannten Gemeinwesens glatt am Arsch vorbeigeht. Ihr führendes Drecksblatt zeichnet das Bild, das Deutschland im Sommer 2011 der Welt bietet:

Schandurteil. Es ist ein Urteil, das fassungslos macht: Kindermörder Magnus Gäfgen (35) bekommt 3.000 Euro Entschädigung vom Land Hessen – weil die Polizei dem Entführer Folter angedroht hatte, um das Leben des elfjährigen Jakob von Metzler zu retten. Bei Politikern, Polizeigewerkschaft und Opferverbänden sorgt das Urteil für Entsetzen. »Daß hier ein Mörder eine Entschädigung bekommt, ist für mich völlig unverständlich«, sagte Wolfgang Bosbach (CDU) zu »Bild«, der Vorsitzende des Innenausschusses im Deutschen Bundestag. Gäfgen hatte geklagt, weil der damalige Vize-Polizeipräsident von Frankfurt/Main, Wolfgang Daschner, dem Entführer Schmerzen angedroht hatte, wenn er den Aufenthaltsort seines Opfers nicht nenne. Auch der Opferverband »Weißer Ring« kritisierte das Urteil scharf. Die Entscheidung des Frankfurter Landgerichts sei nicht nachvollziehbar. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) hat das Urteil massiv kritisiert: »Für mich ist dieses Urteil eine unerträgliche Perversion des Rechtsstaates. Es ist unglaublich frech und unanständig, für die Angst, die der Täter während der Vernehmung hatte, Entschädigung zu verlangen. Folter ist verboten, aber kein Anlaß, den Mörder zum Opfer zu erklären.« Harsche Kritik auch von der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG): »Das Urteil läßt die eigentliche ungeheuerliche Tat – die Ermordung eines Kindes – in den Hintergrund treten«, sagte der DPolG-Bundesvorsitzende Rainer Wendt.

»Es ist beklemmend, daß dieser feige Kindesmörder auf die Einhaltung seiner Menschenwürde pochen kann«: In diesen Satz faßt ein Leser eines anderen Drecksblatts aus demselben Verlag die öffentliche Meinung. Die Würde des Menschen ist unantastbar – es sei denn ... Folter ist verboten – es sei denn ... Wer einer Straftat verdächtig ist, hat keine Menschenwürde. Wer keine Menschenwürde hat, darf gefoltert werden, ruft der Vorsitzende des Innenausschusses, ruft der Innenminister, ruft der Mann von der Bullerei und der deutsche Pöbel. Die vom Recht geschützte Würde des Menschen ist ihnen allen eine unerträgliche Perversion. Die Konsequenz solchen Denkens ist, daß der Polizei erlaubt wird, beim Verdacht auf besonders schwere Verbrechen Brustwarzen oder Hoden von Verdächtigen unter Strom zu setzen.

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Literatur Konkret Nr. 36