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36 Jahre Konkret CD

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Heft 12 2006

Georg Fülberth

Das Phänomen

Die "Unterschicht"? Ist etwas, das jede Ungleichheitsgesellschaft nötig hat

Wir lesen in einem alten Buch: "Je größer der gesellschaftliche Reichtum, das funktionierende Kapital, Umfang und Energie seines Wachstums, also auch die absolute Größe des Proletariats und die Produktivkraft seiner Arbeit, desto größer die industrielle Reservearmee. Die disponible Arbeitskraft wird durch dieselben Ursachen entwickelt wie die Expansivkraft des Kapitals. Die verhältnismäßige Größe der industriellen Reservearmee wächst also mit den Potenzen des Reichtums. Je größer aber diese Reservearmee im Verhältnis zur aktiven Arbeiterarmee, desto massenhafter die konsolidierte Übervölkerung, deren Elend im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Arbeitsqual steht. Je größer endlich die Lazarusschichte der Arbeiterklasse und die industrielle Reservearmee, desto größer der offizielle Pauperismus. Dies ist das absolute, allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation. Es wird gleich allen andren Gesetzen in seiner Verwirklichung durch mannigfache Umstände modifiziert, deren Analyse nicht hierher gehört." (Karl Marx, "Das Kapital", Erster Band, Buch I: Der Produktionsprozeß des Kapitals, in: MEW, Band 23, Berlin 1975, S. 673 f.).

Der Befund lautet: Gerade in Metropolen gibt es Unterschichten. Venedig im 14. Jahrhundert, Amsterdam im 17., London im 19., die USA im 20. und 21. - immer stand dem Wohlstand Armut gegenüber. Zum Teil kommt das davon, daß den einen vorenthalten wird, was die anderen sich aneignen, und daß diese Verteilung dann besonders gut funktioniert, wenn am unteren Ende drei Gruppen aneinandergeraten: schlecht entlohnte Produzenten ("Arbeitsqual"), die Arbeitslosen ("Reservearmee") und die dauerhaft Ausgeschiedenen ("Lazarusschichte"). Außerdem ziehen reiche Gesellschaften Einwanderung an: Menschen, denen es in ihren Herkunftsregionen so schlecht geht, daß sie froh sind, woanders ganz unten anfangen zu können. Machen sie den einheimischen Paupers Beine - um so besser.

Dieser Zustand ist so alt wie der Kapitalismus, teilweise noch älter. Für die Bundesrepublik hat die Friedrich-Ebert-Stiftung ihn jetzt auf acht Prozent beziffert (der "Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung", dies zum Vergleich, rechnet mit 13,5 Prozent). Verglichen mit dem oben zitierten apokalyptischen Dokument und Verhältnissen früherer Zeiten ist das noch nicht einmal sehr viel. Dennoch hat ein großes Reden darüber stattgefunden. Warum?

Mitte der fünfziger Jahre wurden in der Bundesrepublik die Klassen abgeschafft. Der Soziologe Schelsky ersetzte sie durch Schichten, genauer: durch eine einzige, die "nivellierte Mittelstandsgesellschaft". Das war nicht Ideologie, sondern ziemlich viel Wirklichkeit. Nicht nur die BRD, sondern auch andere Industriegesellschaften durchliefen eine Rekonstruktionsphase. Was das ist, hätte man 1966 bei dem Ungarn Franz Jánossy erfahren können. In seinem Buch "Das Ende der Wirtschaftswunder" ging er davon aus, daß seit der Industriellen Revolution alle Ökonomien, die auf dieser beruhen, einem langfristigen Wachstumstrend folgen. Dieser speise sich aus zunehmendem Sach- und Arbeitskräftepotential. Er könne durch Kriege und tiefe Krisen unterbrochen werden. Rückstände und Zerstörungen müßten anschließend kompensiert werden. Dies führe zu einem überdurchschnittlichen Wachstum, das sich auch nach dem Erreichen des alten Niveaus noch einige Zeit fortsetze. Jánossy vertrat "die Ansicht, daß die wirtschaftliche Rekonstruktionsperiode im Zeitpunkt, in dem die Produktion ihr Vorkriegsniveau erreichte, noch nicht beendet war, sondern bedeutend länger dauerte. Die Rekonstruktionsperiode findet nämlich - unserer Auffassung gemäß - ihr Ende erst in dem Zeitpunkt, in dem das tatsächliche Produktionsniveau gleich jenem ist, das in diesem Zeitpunkt erreicht worden wäre, wenn der Krieg gar nicht stattgefunden hätte." Bis dahin gibt es überdurchschnittliches Wachstum, man erkennt den alten Kapitalismus (einschließlich seiner Unterschicht) kaum noch wieder.

Aber auch Wunder haben irgendwann ein Ende. Dies war spätestens in den siebziger Jahren der Fall. Zwischen Ursache und Wirkung vergeht manchmal auch noch ein bißchen Zeit, inzwischen jedoch ist die Phänomenologie des Kapitalismus wieder komplett, einschließlich Unterschicht.

In der langen Sonderperiode war allerdings der Begriff zur Sache verlorengegangen. Das Wort "Unterschicht" jedenfalls ist neuerdings verboten, zumindest bei Franz Müntefering und Hubertus Heil. Es gilt als eine Beleidigung, und zwar gleich in dreifachem Sinn: erstens für diese Personengruppe selbst, zweitens für die Gesellschaft, in der so etwas vorkommt, und drittens für regierende Verantwortungsträger. Letztere fürchten, irgend jemand könne auf die Idee kommen, sie seien schuld. Also wird die Unterschicht so namenlos wie einst die DDR: Es gab sie, aber sie sollte nicht genannt werden. Für den Bundeskanzler Kiesinger war sie ein "Phänomen".

Damit haben wir es also jetzt auch in der Sozialstruktur zu tun. Soziologen hatten schon vor längerer Zeit ein anderes Wort erfunden: das "Prekariat". Damit meinten sie aber nicht nur die armen Teufel, sondern teilweise auch diejenigen ihrer Kollegen, die noch keine feste Anstellung haben, sondern sich von einem unsicheren Job zum anderen bewegen müssen. Einige wenige leben zwischenzeitlich davon gar nicht schlecht. Der Trendforscher Horx lobt den neuen Zustand sogar als ein Reich der Freiheit. Damit fehlte allerdings wieder eine exakte Bezeichnung für die, denen es nicht ganz so gut geht. Die Friedrich-Ebert-Stiftung hilft mit einem Partizipium präteriti aus: abgehängt - "abgehängtes Prekariat". Es handele sich im Grunde nicht um eine Lage, sondern um eine Einbildung: Es gibt Leute, die meinen, ihnen könne niemand und nichts mehr helfen. Damit haben wir den Sprung von der Realität in den Diskurs geschafft. Dort ist es am schönsten, zumindest dann, wenn man über andere reden kann.

Das geschieht nicht nur von oben nach unten, sondern auch in Augenhöhe: Die Koalitionspartner giften sich an. Der SPD war das Thema zunächst recht, denn sie konnte sich wieder einmal als warmherzige Partei besorgt zeigen. Dann aber sagten Pofalla von der CDU und auch Ottmar Schreiner vom linken Flügel, sie habe das Problem doch erst geschaffen: mit Hartz IV. Die führenden Sozialdemokraten konnten auf einen Konsens hinweisen: Nicht um eine wirkliche Notlage handele es sich, sondern um eine soziale Hängematte, in der sich Untüchtige sammelten. Mit Hartz IV habe man sie aber doch gerade auszukippen begonnen.

Diese Interpretation ist falsch. Man wollte die Kosten für die zwar große und wachsende, aber irgendwie noch überschaubare Gruppe jener über Fünfzigjährigen senken, die ihr bisheriges Arbeitsleben lang Beiträge gezahlt, jetzt aber ihren Job verloren und kaum noch einen zu erwarten haben. Sie werden finanziell gedrückt. Zugleich erhalten die bisherigen Sozialhilfeempfänger etwas mehr. Und eine bislang unbekannte Menschengruppe ist sichtbar geworden. Das sind diejenigen Armen, die schon früher einen Anspruch auf Sozialhilfe gehabt hätten, diesen aber erst jetzt geltend machen. Da und dort mag aus Versehen auch noch die eine oder andere neue Bezugsberechtigung entstanden sein. Die Sache ist insgesamt nicht billiger geworden, sondern teurer. Dies ist der Grund des Lamentos in der Politischen und der Kommentierenden Klasse und auch des Befunds, es fehle oft nicht an Geld, sondern an Aufstiegswillen.

Dabei wird ein gesellschaftspolitischer Nutzen übersehen: Die Phänomene DDR und Unterschicht haben gemeinsam, daß sie jene Außenarena, ja jene Art Feind darstellen, die jede Ungleichheitsgesellschaft für ihren inneren Zusammenhalt braucht. Nur wenn klar ist, wer nicht dazugehört, ist es im Pferch auszuhalten. Insofern wäre anzuregen, daß jedes Mitglied der Unterschicht nach fünfundzwanzig Jahren wegen nachgewiesener Verdienste um den Gemeinschaftsfrieden das Bundesverdienstkreuz erhält.

Georg Fülberth schrieb in KONKRET 11/06 über den marxistischen Wissenschaftler Robert Katzenstein

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Literatur Konkret Nr. 36