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36 Jahre Konkret CD

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Heft 09 2009

Michael Hahn

As Times goes by

Sterbende Zeitungen: Verschwindet endlich die Journaille? Die USA machen den Anfang.

Zum Schluß kamen die "Rocky Mountain News" nochmal groß raus. Am 27. Februar 2009, kurz vor dem 150. Jahrestag ihrer Gründung, erschien die Tageszeitung aus Denver zum letzten Mal, mit einer 52seitigen Sonderbeilage. Erst am Tag zuvor hatte der Verleger den 230 Redakteuren mitgeteilt, daß er die Zeitung nun einstellen werde. 210.000 Exemplare hatte die "Rocky" zuletzt werktags im Großraum Denver (2,6 Millionen Einwohner) vertrieben. Damit ist sie das bisher größte Opfer der Zeitungskrise in den USA. Wenige Wochen später stellten auch die nur wenig jüngeren Blätter "Seattle Post-Intelligencer" und "Tucson Citizen" ihre Printausgaben ein, dort machen Rumpfredaktionen vorläufig im Internet weiter (weitere Beispiele finden sich auf www.newspaperdeathwatch.com).

Selbst die weltweit wichtigste Tageszeitung, die "New York Times" ("NYT"), könnte bereits im Mai 2009 Pleite gehen, spekulierte das seriöse Magazin "Atlantic Monthly" zum Jahreswechsel anhand der aktuellen Geschäftszahlen des "Times"-Konzerns. Das sei aber auch nicht weiter schlimm, denn die Zukunft des Journalismus liege nun mal im Internet. Allenfalls ein "bestimmtes zivilisiertes Ritual" werde man vermissen, nämlich die genüßliche Lektüre der dicken "Times"-Sonntagsausgabe, die es früher regelmäßig auf über 1.000 Seiten brachte (inklusive Anzeigenbeilagen). Weniger gelassen sieht es das Magazin "Time". Dort war im März von einer "Kernschmelze" des Journalismus die Rede. Man könne sich nun "eine Zeit vorstellen, in der einige große Städte keine Zeitung mehr haben werden und in der Zeitschriften und lokale Fernsehsender nicht mehr als eine Handvoll von Reportern beschäftigen werden". Die linksliberale Wochenzeitschrift "The Nation" sah im April sogar die Demokratie selbst in Gefahr: "Der Journalismus bricht zusammen, und damit geht die größte Bedrohung für die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu unseren Lebzeiten einher."

Denver wird vorerst nicht zur No-Newspaper-City. Bereits 2001 hatte die "Rocky" ihre Verlagsgeschäfte (Anzeigenakquise, Vertrieb) mit dem größeren Konkurrenzblatt "Denver Post" zusammengelegt. Nun hat die Wirtschaftskrise dem kleineren Partner dieses sogenannten "Joint Operating Agreement" den Garaus gemacht; die "Post" dürfte daraus gestärkt hervorgehen und kann nun als Monopolblatt für Denver die Preise diktieren. Auch die Zeitungseinstellungen in Seattle und Tucson waren nicht mehr als eine "Marktbereinigung", also weitere Schritte im Konzentrationsprozeß der Massenmedien in den USA. Immer mehr Städte gelten als One-Newspaper-Cities - ähnlich wie die deutschen "Ein-Zeitungs-Kreise".

Zumindest kurzfristig besteht keine Gefahr, daß einzelne US-Großstädte und Regionen bald keine Tageszeitung mehr haben werden, sagt der US-amerikanische Medienprofessor Philip Meyer zur aktuellen Krise. Doch langfristig geht auch Meyer davon aus, daß das Medium Tageszeitung verschwinden wird. In seinem Buch "The Vanishing Newspaper" hatte er schon vor fünf Jahren auf der Grundlage aktueller Trends in Mediennutzung (Internet!) und Auflagenhöhe ausgerechnet, daß in den USA im Frühjahr 2043 zum letzten Mal eine gedruckte Tageszeitung erscheinen wird. Im September soll die zweite Auflage von Meyers Buch erscheinen; vermutlich wird er seine schlagzeilenträchtige Jahreszahl vordatieren.

Nach Angaben des Fachblatts "American Journalism Review" ("AJR") erscheinen in den USA derzeit 1.422 Tageszeitungen. Die allermeisten sind kleine Lokal- und Regionalzeitungen mit weniger als 50.000 Auflage - und davon seien fast alle profitabel. Selbst die meisten größeren Zeitungen, die als Aktiengesellschaften geführt werden, werfen noch Profite ab. Der "AJR" spricht von einer durchschnittlichen Rendite von "knapp über zehn Prozent" im vergangenen Jahr. In einer Zeit, zu der in den USA die Immobilien- und Stellenanzeigen bereits tief eingebrochen sind, ist das immer noch erstaunlich viel - freilich weit weniger als die traumhaften 22,7 Prozent Rendite, die der durchschnittliche Zeitungsaktionär im Jahr 2000 verbuchen konnte.

Den Zeitungsverlagen macht vor allem zu schaffen, daß sie ihre frühere Haupteinnahmequelle ans Internet verloren haben: Kleinanzeigen für Immobilien, Autos und Arbeitsstellen. Junge und kaufkräftige Leser nutzen verstärkt digitale Medien - damit wird die Tageszeitung auch für große Anzeigenkunden weniger attraktiv. Die Druckauflagen sinken langsam, aber stetig. Nun kommt noch die aktuelle Wirtschaftskrise hinzu.

Die hat vor allem bei einigen Großstadtzeitungen zu dramatischen Einbrüchen geführt. In sechs der zwölf größten US-Metropolen stehen die führenden Tageszeitungen vor der Pleite. Die Muttergesellschaften der "Chicago Tribune", der "Los Angeles Times" und der beiden Zeitungen in Philadelphia haben Insolvenz angemeldet. Nun genießen sie Gläubigerschutz und erscheinen weiter. Im krisengeschüttelten Detroit (siehe KONKRET 7/09) bekommen die Abonnenten der beiden Lokalblätter "Free Press" und "News" nur noch donnerstags, freitags und sonntags eine Zeitung zugestellt. An den anderen Wochentagen ist das Anzeigenaufkommen so gering, daß die Verlage nur noch Rumpfausgaben für den Kioskverkauf produzieren. In San Francisco drohte die Zeitungskette Hearst damit, ihren "Chronicle" zu schließen, und erzwang damit tiefe Einschnitte bei Gehältern, Sozialleistungen und Arbeitsplatzgarantien. Ähnlich lief es am anderen Ende der USA, in Boston. Der dortige "Globe" machte im vergangenen Jahr einen Verlust von 50 Millionen Dollar; im laufenden Jahr rechnet man gar mit 85 Millionen. Auch hier stimmten die Betriebsgewerkschaften harten Lohnkürzungen zu.

Der "Boston Globe" ist mit dafür verantwortlich, daß sogar die "NYT" (werktags 1,1 Millionen Auflage, sonntags 1,4 Millionen) in Schwierigkeiten geraten ist. Der "Times"-Konzern hatte in den neunziger Jahren kräftig expandiert. Über die gesamten USA verteilt investierte man in Druckereien; selbst im hintersten Arkansas war nun im Starbucks-Café die aktuelle "Times"-Ausgabe erhältlich. Damit stieg die "NYT" zur führenden Tageszeitung der USA auf - auch wenn die bunte "USA Today" und das "Wall Street Journal" noch höhere Auflagen erreichen. Gleichzeitig kaufte der "Times"-Konzern Dutzende Radiostationen, Fernsehsender und Regionalzeitungen auf, darunter eben auch den renommierten "Boston Globe". Allein für dieses Blatt zahlten die New Yorker sagenhafte 1,1 Milliarden Dollar. Diese Investition schien sich zunächst durchaus zu lohnen, denn der "Globe" warf anfangs fette Gewinne ab.

Nun allerdings hat auch der "NYT"-Konzern große Probleme, seine Milliardenschulden aus den neunziger Jahren zu refinanzieren. Sein Aktienkurs ist um rund 90 Prozent eingebrochen. Erst vor zwei Jahren zog der Verlag in seine neue Firmenzentrale in Manhattan; der spektakuläre Renzo-Piano-Bau hatte 600 Millionen Dollar gekostet. Um schnell an flüssiges Geld zu kommen, blieb dem "Times"-Konzern nichts anderes übrig, als das Gebäude für 225 Millionen Dollar zu verkaufen (und gleich wieder zurückzumieten). Eine weitere Geldspritze kam von dem mexikanischen Milliardär Carlos Slim, der für seine 250 Millionen Dollar stattliche 14 Prozent Zinsen aushandeln konnte. Die Redaktion akzeptierte Gehaltskürzungen um fünf Prozent, der Einzelverkaufspreis wurde von 1,50 auf zwei Dollar angehoben. So hat der Verlag zumindest Zeit gewonnen.

Bisher hat die "NYT" auf drastische journalistische Kürzungen verzichtet. Nach eigenen Angaben hat sie ihre redaktionellen Seitenumfänge nur unwesentlich gekürzt und beschäftigt weiterhin fast 1.300 festangestellte Redakteure und Korrespondenten (das liegt wohl auch daran, daß die "NYT" weiterhin von einer alteingesessenen Verlegerdynastie kontrolliert wird, die offenbar weniger auf den Aktienkurs achten muß als andere börsennotierte Verlage). Die Konkurrenz vom "Wall Street Journal" expandiert sogar; dessen neuer Eigentümer, der berüchtigte Rupert Murdoch, will sein journalistisches Angebot noch ausbauen und damit der "NYT" auch außerhalb des Finanzsektors Paroli bieten.

Immerhin eine strategische Entscheidung der "New York Times" aus den neunziger Jahren hat sich bewährt. Der Verlag investierte früh in seinen Internetauftritt; seit etlichen Jahren ist dieses Angebot für die Benutzer kostenlos. Die Seite www.nytimes.com verzeichnet im Monat mehr als 20 Millionen individuelle Besucher. Doch kostendeckend ist der Netzauftritt noch lange nicht, selbst die "NYT" erzielt fast alle ihre Anzeigenerlöse mit der Printausgabe. "Die Zeitungen erreichen mehr Leser als jemals zuvor", konstatiert das Wochenmagazin "Time" unter Einbeziehung der Internet-Klicker, "besonders unter jungen Leuten. Das Problem ist, daß immer weniger dieser Konsumenten etwas bezahlen."

Weil in der Wirtschaftskrise auch im Internet das Anzeigenaufkommen sinkt, propagieren manche nun ein neues "Micropayment"-System, mit dem die Verlage für jeden angeklickten Artikel ein paar Cent verlangen könnten. Der Betrag müßte so niedrig sein, daß es sich nicht lohnt, anderswo nach einer kostenlosen digitalen "Raubkopie" zu suchen. Außerdem wäre eine branchenweit gemeinsame Lösung erforderlich, damit die Internet-User nicht einfach zur Konkurrenz wechseln - und diese Lösung wird es wohl kaum geben. Manche Zeitungen hoffen auf neue elektronische Lesegeräte (beispielsweise den "Kindle" von Amazon), mit denen sie dann kostenpflichtige Abos verkaufen könnten. Tragfähige Geschäftsmodelle sind das alles nicht.

Daß Journalisten massenhaft entlassen werden, hat schon in den boomenden neunziger Jahren begonnen, als immer mehr Verlage an die Börse gingen oder von großen Konzernen aufgekauft wurden. So ist die Redaktion der "Los Angeles Times" heute nur noch halb so groß wie vor 15 Jahren. Das Internet kann diesen Stellenabbau ebensowenig auffangen wie Fernsehen und Radio (dort sind nur relativ wenige Journalisten beschäftigt). Zwar ist beispielsweise die linksliberale "HuffPo" (www.huffingtonpost.com) mittlerweile durchaus ein professionell gemachtes, umfassendes Informationsmedium. Allerdings stützen sich die meisten Onlinestorys und Blogs weiterhin auf Berichte, die bereits anderswo im Print erschienen sind. Für brisante Recherchen braucht man eben auch Teamwork, "fact checker" und Rechtsanwälte (um die unvermeidlichen einstweiligen Verfügungen und Verleumdungsklagen abzuwehren). Über einen solchen Apparat verfügen bisher nur gut ausgestattete Zeitungsverlage.

Aber trotz ihrer vergleichsweise üppigen personellen Ausstattung hat sich die "NYT" in den vergangenen Jahren mehrfach journalistisch blamiert. Nach der Entzauberung des vermeintlichen Starreporters Jayson Blair, der viele seiner Storys anderswo abgeschrieben oder teilweise gar frei erfunden hatte, wurde die "NYT" zum Gespött der ganzen Branche. Politisch folgenreicher waren die Berichte der Topreporterin Judith Miller, die sich 2002/03 mehrfach von "ungenannten Quellen" (aus der Bush-Regierung) brisante "Erkenntnisse" über irakische Massenvernichtungswaffen diktieren ließ und dies als Ergebnis eigener Recherchen ausgab. Millers Reportagen trugen dazu bei, daß die meisten US-Massenmedien Anfang 2003 einen militärischen Angriff auf den Irak befürworteten.

Später freilich ging die "NYT" auch immer wieder auf Konfrontation mit der Bush-Regierung; beispielsweise 2006 bei ihren Recherchen über ein illegales Abhörprogramm. Als das Weiße Haus Wind davon bekam, daß die "NYT" die Story drucken wollte, forderte Bush persönlich den Verleger auf, im Interesse der "nationalen Sicherheit" auf eine Veröffentlichung zu verzichten. Der Artikel erschien trotzdem, und die Zeitung bekam einen Pulitzer-Preis dafür. Auch die Jayson-Blair-Blamage hatte ein nützliches Ergebnis: Die "NYT" schuf damals den Posten eines "Public Editors". Dieser Ombudsman berichtet seither in einer wöchentlichen Kolumne über Leserbeschwerden, journalistische Fehler, tendenziöse Berichterstattung und sogar über Interessenkonflikte zwischen Redaktion und Verlag (beispielsweise bei den Verhandlungen des "Times"-Konzerns über die Zukunft des "Boston Globe") - eine Bereitschaft zur Selbstkritik, die bei deutschen Massenmedien bislang unvorstellbar ist.

Die meisten der (voreiligen) Nachrufe auf die gedruckte Zeitung und auf die vermeintlich gefährdete "Vierte Gewalt" verklären freilich die Qualität des bisherigen Printjournalismus. Kaum ein Artikel kommt ohne die Wörter "Pentagon Papers" und "Watergate" aus - Enthüllungen aus den siebziger Jahren, von denen die "NYT" und die "Washington Post" bis heute zehren. Der journalistische Alltag in diesen beiden Leitmedien sieht anders aus, und Kritik wird allenfalls systemimmanent geäußert.

Das gilt freilich auch für die zahlreichen Reformvorschläge, die nun in journalistischen Fachzeitschriften und linksliberalen Medien kursieren. So forderte die Wochenzeitschrift "The Nation" einen sofortigen "journalism economic stimulus", eine Art Medien-Konjunkturspritze von 20 Milliarden Dollar im Jahr. Konkret: höhere Zuschüsse für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, kostenloses Porto für Zeitungen und Zeitschriften und eine individuelle Gutschrift von 200 Dollar für jeden Steuerzahler, wenn dieser eine Tageszeitung seiner Wahl abonniert. "Das wäre eine indirekte Subvention, weil der Staat nicht kontrollieren würde, wer das Geld bekommt", schreiben die Autoren. "Das würde unseren alten Medien etwas Zeit verschaffen" für den Übergang in die digitale Ära.

Ein anderes Modell schwebt dem demokratischen US-Senator Benjamin Cardin vor, in dessen Heimatstaat Maryland die Zeitung "Baltimore Sun" vor der Pleite steht. Sein Gesetzentwurf zur "Zeitungswiederbelebung" ("Newspaper Revitalization Act") sieht vor, daß sich Zeitungsverlage in gemeinnützige Stiftungen umwandeln können, mit den entsprechenden steuerlichen Vorteilen. "So traurig es ist, aber das könnte unsere letzte, beste Chance sein", lobte der Medienkritiker der "Nation".

Ein weiterer Versuch sind gemeinnützige Rechercheprojekte wie ProPublica in New York. Dort arbeiten drei Dutzend Festangestellte seit anderthalb Jahren an "investigativem Journalismus im öffentlichen Interesse" - unter der Leitung eines ehemaligen "Wall Street Journal"-Redakteurs. Das Startkapital stammte aus einer Privatspende von zehn Millionen Dollar; hinzu kommen Stiftungsgelder. Die ProPublica-Artikel sind im Internet abrufbar, und andere - auch kommerzielle - Medien dürfen sie kostenlos nachdrucken (solange sie es sich damit nicht mit ihren Anzeigenkunden verscherzen). Ähnliche Recherchestiftungen arbeiten in Städten wie San Diego und Minneapolis. Auch die Nachrichtenagentur AP verbreitet neuerdings Artikel, die solche gemeinnützigen Journalistenprojekte erarbeitet haben. Vielleicht sieht ja so das Geschäftsmodell der Zukunft aus: Die Öffentlichkeit übernimmt die Kosten für aufwendigen Hintergrundjournalismus, die Medienkonzerne streichen die Anzeigenerlöse ein.

Michael Hahn schrieb in KONKRET 2/09 über Barack Obamas politisches Personal

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Literatur Konkret Nr. 36