Leseprobe
Ronald M. Schernikau
Kleinstadtnovelle
96 Seiten, broschiert
EUR 15.00     SFr 21.20
ISBN 978-3-89458-216-6

du bist doch ein junge oder? er lernt begreifen, daß er das, was er früher mit mädchen tat: ihnen briefe schreiben, mit ihnen gehen und küssen lernen, daß er das mit den jungen nicht mehr machen kann irgendwie, aber es ist ihm nicht bewußt, und erst später fragt er nach sinn und unsinn, nach verstand und unverstand einer weit, die die normalste sache nicht erträgt und die statistisch unnormale schon gar nicht, für die scheißen zwischen zwei essensgängen unvorstellbar ist und zärtlichkeit absurd, die vorsichtigen versuche, seine gefühle zu äußern, rufen liberalunverständige blicke seiner mutter, gelächter der schule und plötzlich eindeutige träume bei ihm hervor, die noch jahre oder immer ein thema haben: sehnsucht, im verhältnis zu lea während b.s bewußtwerden ist sein schwulsein offnes geheimnis, sie wissen voneinander, ohne es zuzugeben, zweideutigkeit ist triumph, schon das. und gleichzeitig kommt da die identifikation mit dem unterdrücker, ein kerl sein ein träum, nur halbschwul, nur halb, alles in der schwebe lassen, provozieren oder schweigen, zwischending gibts plötzlich nicht, also flucht: zwischen den schenkein eines amerikanischen baseballspielers versinken, und wenn er später in den unmöglichsten augenblicken an leif wird denken müssen, dann wälzt er sich auf die andere seite, stöhnt, und verflucht alles, woran er im moment denken kann. und das ist keine liebe sondern tagtraum, der ihn besitzt, denn leif ist einer von der sorte, deretwegen b. vor jähren die schule wechseln will, einer von denen, die außerordentliche freude haben am anreden b.s als fräulein, und das ist in diesem alter kein stillironisches, sondern ein über den schulhof gekräh-tes fräulein, wozu die weit leuchtenden tücher des dreizehnjährigen reizen, alle und vor allem die, die die erfüllung der gruppenpflicht besonders aufmerksam wahrnehmen, aus angst vor nichtanerkennung: b. kann das verstehen, das geschieht zu der zeit, da der alibischwule des gymnasiums ihn kennt und b. entsetztkokett zurückweist: ich bin nicht dein mäuschen!, und sich ihn wünscht, ich bin schwul!, hatte er ernsthaft vor, seinem italienischen urlaubsjungen ins gesicht zu brüllen, obwohl er nur ahnte, was das hieß, und nicht sicher war, daß es auch stimmte, was lea jetzt an ihm verwirrt, sind sein mut im auftreten und sein wille, sich auszuleben; einmal sagt sie im streit verzweifelt: ich hätt aber auch von anfang an müßt ich strenger sein. und muß darauf lachen, wenn sie sich unterhalten über treue, oder er singt ihr bye bye mein lieber herr vor, dann findet sie das klasse, sagt es ihm auch lächelnd, auch verwundert, weil sie sich ein bißchen fragt, ob alle, die so sind wie er, so sind wie er. als er von dieser ihrer frage erfährt, ist sie schon beantwortet, weil sie andere kennengelernt hat wie ihn und nicht wie ihn, weil sie mit ihm getanzt hat in seiner subkultur und mit ins kino gegangen ist, die dürftigen angebote faßbinders, praunheims und petersens nutzend, sie läßt sich aufstacheln von ihm gegen die männer im allgemeinen und brutalität, selbsteingenommenheit und nehmenwaskommt im besonderen, und liest brecht: man wirft den gleichgeschlechtlichen oft vor, daß sie ein süßliches gehabe zur schau tragen und dem sich nüchtern fühlenden lächerlich vorkommen, wenn sie mit ihren freunden reden. aber benehmen sich die männer zu den frauen anders? man sollte entweder das süßliche gehabe und das zurschautragen der berauschtheit, wo immer es auftritt, bekämpfen, oder es entschuldigen, wo immer es auftritt, und die klassenkonferenz ist kurz, nach kürzester anhörung der betroffenen, die längst bekanntes erzählen, wird der fall kommentarlos der gesamtkonferenz übergeben, in der hoffnung auf eigene verantwortungslosigkeit.

© Konkret Literatur Verlag, Ehrenbergstr. 59, 22767 Hamburg

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