Leseprobe
Ronald M. Schernikau
Die Tage in L.
Darüber, dass die DDR und die BRD sich niemals verständigen können, geschweige mittels ihrer Literatur
216 Seiten, broschiert
EUR 18.00     SFr 30.00
ISBN 978-3-89458-206-7

ich trete an einen tisch mit sieben personen, die sich an berühmtheit übertreffen, an der stirnseite drei männer, die alle mit den augen zucken, ich werde vorgestellt, ein gespräch beginnt mühsam, und nach anderthalb minuten spricht eine frau den satz, auf den ich immer schon warte, ein schnelligkeitsrekord, sie sagt: das können sie nicht beurteilen. nach anderthalb minuten.

berichte über mißstände werden von den ddrleuten regelmäßig mit chören über die mißstände hier beantwortet. ausländer, die die ddr loben, gelten als, mindestens, blind, in dem adjektiv steckt der verdacht auf vorsätzlichkeit.

...

ich konstruiere zu den dingen eine not, wenn ich von drüben erzähle. ich versuche, den kapitalismus an seiner reformbedürftigkeit anschaulich zu machen, also an dem punkt, an dem er gerade allen zuständen der welt ähnelt. ich spiele den luxus herunter, den ein fotokopiergerät bedeutet, ich leugne standhaft meine beteiligung an den vorzügen.

ich komme mir immer so kleinlich vor, wenn ich sage, dass zweidreißig für einen fahrschein viel geld ist. zweidreißig, das klingt ja nach nichts. zweidreißig, demnächst übrigens zweisiebzig, das bedeutet, dass ich an einem wochenende zuhaus einen zwanziger für ubahn ausgebe. natürlich gebe ich ihn nicht aus, sondern fahre schwarz, ein wiederum ungläubiges und erleichtertes lachen erwidert diese information. denn natürlich wissen sie auch nicht, was schwarzfahren ist. dass ich nach dreimal erwischtwerden in untersuchungshaft komme, sofern ich kein geld habe, dass da leute schon ausgewiesen wurden deshalb, aus diesem reichen land, kleine unschuldige polen, die nichts verstanden, jetzt fahren sie in paris schwarz, ein aufstieg.

es kann mir ja scheißegal sein, ob die leute hier kapieren, was schwarzfahren ist. es ist mir aber nicht egal.

...

wenn die leute aus dem westen mit den leuten aus der ddr in kontakt treten, wollen die ddrleute immer, dass man ihnen ersatzteile mitbringt. das ansinnen! sie haben noch nicht gemerkt, dass man im westen alles wegwirft. was vor jahren gekauft wurde, gibt es nicht mehr. was verbraucht ist, ist weg, einfach weg. dies armband für die uhr ist unbekannt. es ist zu lange her. was zu lange her ist, ist plunder. die ddr produziert keinen plunder. sie ist unverständlich.

das andere ist immer auch alles andere. fragen abstrusesten inhalts wollen beantwortet werden, bücher referiert, namen gekannt. weißt du, wie viel das kostet? meistens denke ich mir die preise aus, lüge sachverhalte zusammen, widerspreche mir von einem tag auf den anderen. auch behaupte ich, filme im fernsehen gesehen zu haben, die es leider nur im kino gab, beglückt schwärme ich von ihnen, wenn es sie dann doch in der ddr auch gibt, damit nur umso deutlicher signalisierend, dass ich sie schon seit jahren hinter mir habe. - wie heißt der letzte film von woody allen? was hat heiner müller im westen veröffentlicht? weshalb machst du keinen urlaub in sri lanka? und natürlich: willst du hierbleiben?

© Konkret Literatur Verlag, Ehrenbergstr. 59, 22767 Hamburg

 Zurück