Leseprobe
Rolf Gössner
»Big Brother« & Co.
Der moderne Überwachungsstaat in der Informationsgesellschaft
192 Seiten, broschiert, 2. Auflage
EUR 16.50     SFr 30.00
ISBN 978-3-89458-195-4
vergriffen

Die "Big Brother"-Versuchsanordnung zur Vermarktung des Menschen und seiner Intimsphäre treibt auf die Spitze, was das kommerzielle Fernsehen - als Werbeträger im Konkurrenzkampf auf Zuschauerquote fixiert - bereits in seinen Nachmittagsprogrammen mit bis zu zwölf Talkshows täglich antreibt: den Exhibitionismus, die Bereitschaft zur Schilderung intimster Details aus dem Privatleben x-beliebiger Kleinbürger vor einer geil-geifernden, grölenden, mit den Füßen stampfenden Öffentlichkeit. Bärbel Schäfer: "Für Geld würde ich alles tun" (RTL), Birte Karalus: "Liebestöter - Du reizt mich nicht mehr" (RTL), Jörg Pilawa: "Schwanger - aber nicht vom eigenen Mann" (SAT 1), oder Sonja: "Du hast Schande über unsere Familie gebracht" (SAT 1)sind nur wenige Beispiele für Spanner-Sendungen, wie sie Tag für Tag, Stunde für Stunde für ein Millionenpublikum ausgestrahlt werden.

In Zeiten solcher freiwillig-exhibitionistischen Enthemmungen, in Zeiten der "Versteckten Kamera", die nichtsahnenden Zeitgenossen auflauert, in Zeiten, in denen im Internet rund um die Uhr über "webcams" Observationen live aus den Wohnstuben und Kloschüsseln kommerziell motivierter Exhibitionisten angeboten werden, in Zeiten, in denen "Big Brother" als kommerzielles Spannerspektakel präsentiert wird - in solchen Zeiten ist eine Öffentlichkeit, die sich hieran nicht nur delektiert, sondern auch gewöhnt, nur schwer für das Problem einer fortschreitenden gesellschaftlichen Überwachung und für den Datenschutz zu sensibilisieren. Derweil nehmen die staatliche sowie die ökonomisch-soziale Überwachung und Kontrolle mit der Entwicklung hochmoderner Überwachungstechniken und von Telekommunikationsnetzen ungeahnte Dimensionen an, die wir als einzelne kaum noch erfassen können. Aber sie beeinflussen unser aller Leben mit weitreichenden Folgen. Dabei hat der Staat schon lange das Überwachungsmonopol verloren und konkurriert mit privaten Unternehmen und Kriminellen.

So betrachtet kann man "Big Brother" als Pilotprojekt zu Verharmlosung etwa der Video-Überwachung im privaten und öffentlichen Raum verstehen, wie sie gegenwärtig auf der politischen Bühne heftig debattiert und betrieben wird. Ausgerechnet diejenigen Politiker aus CDU/CSU und SPD, die vehement für diese Video-Überwachung eintreten und damit der Rundum-Observation das Wort reden, entzündeten eine moralisch aufgeladene Debatte um "Big Brother", zeigten sich empört, riefen nach Zensur und wollten die Sendung wegen Verstoßes gegen die Menschenwürde am liebsten verbieten lassen. Rund 40 Prozent der Bevölkerung forderten einer Emnid-Umfrage zufolge ebenfalls ein Verbot der Sendung, wobei allerdings die 18- bis 24-jährigen nur mit knapp 20 Prozent vertreten waren, die über 60-jährigen dagegen mit fast 50 Prozent. Der weit über 60jährige Feingeist Otto Schily (SPD), Bundesinnenminister und Geburtshelfer des Großen Lauschangriffs, hatte es sich nicht nehmen lassen, die Fernsehnation zum Boykott des Überwachungsfernsehens aufzurufen.

Viele der Politiker, die gegen "Big Brother" publikumswirksam zu Felde zogen, kämpften letztlich gegen Geister, die sie selbst gerufen haben: das private Kommerzfernsehen. sie kämpfen gegen "Auswüchse", die die kapitalistische Marktwirtschaft unablässig produziert. Und sie kämpfen gegen eine Entwicklung, die sie mit ihrer sogenannten Sicherheitspolitik selbst forcieren: die zur modernen Kontroll- und Überwachungsgesellschaft.

© Konkret Literatur Verlag, Ehrenbergstr. 59, 22767 Hamburg

 Zurück