Leseprobe
Anne Jüssen (Hg.)
POLITEIA 2000: Frauensichten
Essays zur Zeitgeschichte
176 Seiten
EUR 12.90     SFr 23.70
ISBN 978-3-89458-188-6

Senta Trömel-Plötz
Von Liebe kann keine Rede sein

Ich wollte eine Vergangenheit und eine Mentalität abwerfen, die zufällig mit mir assoziiert waren: die nationalsozialistische Vergangenheit der Generation meiner Eltern und die anale Mentalität der deutschen Kontrolleure.
Ich hatte nichts und alles mit dem Konzentrationslager Dachau zu tun, als ich dort als Studentin für kanadische und amerikanische Intellektuelle eine Führung machte. Es war meine erste und letzte Führung in Dachau - ich konnte plötzlich nicht mehr simultan übersetzen, die Worte blieben mir im Hals stecken. Ich war plötzlich beides: Deutsche und deutsche Jüdin - zwei unvereinbare Eigenschaften. Und war beides nicht. Ich sah Nacht und Nebel viele Male, es waren meine Knochen und Zähne auf den Knochen- und Zahnhaufen. Ich saß als Zuschauerin im Filmstudio in Schwabing.
Ich bestellte etwas auf Deutsch in einer Bar in Amsterdam und wurde von einem Mann verjagt, der einen Wutausbruch wegen meiner Anwesenheit bekam.
Ich war in Washington, D.C., bei einer jüdischen Familie eingeladen, und das Essen stockte, als ich die Annahme, dass ich Jüdin sei, korrigierte und nur noch Deutsche war.
Eine polnische Mathematikerin, die ich verehrte, erzählte mir in ihrem Haus in Philadelphia, dass sie nach dem Warschauer Aufstand auf der Flucht eine zu Tode erschöpfte Frau am Straßenrand sitzen sah, die Beine ausgestreckt, und ein deutscher Soldat fuhr mit seinem Panzer über ihre Beine.
Ich fuhr per Anhalter von München nach Bonn, und der Besitzer des Luxuswagens bekam einen Schrei- und Heulanfall psychiatrischen Ausmaßes bei der Erinnerung, seine wunderschönen großen, unschuldigen, blonden SS-Jünglinge alle in Russland verloren zu haben. Er beschrieb mir seinen Versuch, die Gräber "seiner Männer" in Russland zu besuchen. Von Liebe kann wirklich keine Rede sein. Aber von Abschütteln, Abwerfen, Loswerden kann erst recht keine Rede sein. Deutschland klebt an mir wie widerlicher Kunsthonig.
Ich muss den Zwiespalt ertragen, die Doppelrolle, das Dilemma, die niedere Herkunft, die unsägliche deutsche Mentalität auch in mir. Liebe ist da nicht mehr gefragt. Liebe wäre zu viel verlangt. Ansehen, ins Gesicht schauen, durchschauen können und mich nicht wegwenden in bessere Länder - das ist die Aufgabe, von Liebe ganz zu schweigen.

© Konkret Literatur Verlag, Ehrenbergstr. 59, 22767 Hamburg

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