Leseprobe
Friedrich Küppersbusch / Oliver Becker
Lebenslänglich Todesstrafe
Deutschlands letzte Todeskandidatin
160 Seiten
EUR 14.50     SFr 26.50
ISBN 978-3-89458-187-9
vergriffen

Irma K. sitzt nun seit gut 620 Tagen in der Haftanstalt Diez ein. Was von allen diesen Vorgängen die Verurteilte überhaupt erreichte, bleibt Geheimnis. Ihre Vollzugsbeamtinnen erinnern sich heute, dass sie zu denen gehörte, die praktisch keinen Besuch bekamen. Die Zellen des Frauengefängnisses befanden sich im höchsten Teil des hinteren, alten Schlosses. Durch die Gitterstäbe, die heute wohl zur Sicherheit der Jugendherbergsgäste die Fenster armieren, blickt man 30 Meter hinab in den Hof, über die Burgmauer, und dann noch steiler hinunter auf die Lahn. Die Kinder ermordet, der Mann gefallen, die Familie des Mannes auf Abstand bedacht, die eigenen Familie schließlich hat sich von ihr abgewendet. Es gibt keine Anhaltspunkte für Kontakte, materielle oder seelische Hilfe von außerhalb der Anstalt in dieser Zeit. Es gibt keine Zeugnisse oder Lebenszeichen von drinnen.

Es ist nun Anfang April 1949. Für den Beginn des kommenden Monats sind die Schlussberatungen über die neue Verfassung in Bonn anberaumt, und zumindest Justizminister Süsterhenn wusste, dass dann auch der Seebohm-Antrag in seine letzte Abstimmung gehen wird.

Die Guillotine steht bereit in Zelle 27 des Mainzer Haftkellers. Die Messer sind eingetroffen, der Henker verpflichtet. Irma K. ist rechtskräftig und zweifach zum Tode verurteilt, die Vollstreckung ist von der geltenden Verfassung gedeckt und von der Besatzungsmacht auch der Form nach - Köpfen mit dem Fallbeil - bestätigt. Revision und Gnadengesuch sind abgelehnt, Todeszelle und Richtertisch, an dem nach altem Ritual das Urteil noch einmal zu verlesen ist, hergerichtet.

In Diez erhält die Anstaltsleitung im April 1949 nun den dringlichen Anruf, die Kindsmörderin unverzüglich zur Hinrichtung nach Mainz überführen zu lassen. Eine Vollzugsbeamtin aus Diez ruft am nächsten Morgen den Vorstand der Mainzer Haftanstalt zurück und gibt an, man sehe sich außer Stande, die Delinquentin abzutransportieren. Die Vollzugsanstalt Diez verfüge über keinen ausbruchsicheren Gefangenentransporter. 51 Jahre später bestätigt uns die greise Ursula B., dies sei die Notlüge gewesen, mit der sie ihre beruflichen Pflichten gebrochen habe. Der Ton ihrer Stimme lässt allem Alter zum Trotz unzweifelhaft energisch erkennen, dass man ihr das Bundesverdienstkreuz auch mit Gewalt nicht unter der Tür durchprügeln könnte.

Der Beamte im Koblenzer Justizministerium, sein Name bleibt in den Akten geschwärzt, lässt sich den Akt "Todesstrafen" seit Jahresanfang vierzehntätig wiedervorlegen. Er hakt nach, prüft Fortschritte, leitet nächste Schritte ein. Am 11. April ergänzt er handschriftlich: "Die Messer sind in Mainz angetroffen." Doch offenbar gibt es nun im Justizministerium selbst Meinungsverschiedenheiten, denn drei Tage später findet sich, in einer anderen Handschrift, ein ganz anders gestimmter Eintrag. Unter dem 14. April 1949 heißt es:

"Im Grundgesetz wird die Todesstrafe abgeschafft. Mit seiner Inkraftlegung ist zu rechnen. Unter diesen Umständen scheint mir der Erlass allgemeiner Bestimmungen über den Vollzug der Todesstrafe überholt, zumal kaum damit zu rechnen sein dürfte, dass vor Verkündigung des Grundgesetzes rechtskräftig geworden Todesstrafen noch vollstreckt werden. Ich bitte um gtl. Stellungnahme."

Der anonyme Fragesteller - auch sein Name bleibt unter schwarzem Strich verborgen - hat sich geirrt oder hoch gepokert. Die Abschaffung der Todesstrafe im Grundgesetz war bis dahin dreimal niedergestimmt worden, allerdings mit schwindenden Mehrheiten.

© Konkret Literatur Verlag, Ehrenbergstr. 59, 22767 Hamburg

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